20101229

Eines Tages wird der Rabe weiß sein, das Meer austrocknen, man wird Honig in der Kaktusblüte finden, aus Akazienzweigen ein Lager richten, eines Tages, ja, eines Tages wird im Rachen der Schlange kein Gift mehr sein, und die Gewehrkugeln werden keinen Tod mehr bringen, denn das ist der Tag, an dem ich meinen Liebsten verlasse...


aus: J.M.G. Le Clézio - Wüste
Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr,
Sind ihre Wege auch schwer und steil.
Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin,
Auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.
Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie,
Auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettern kann wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so, wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich.

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Ihr seid nicht in euren Körpern eingeschlossen, noch an die Häuser oder Felder gebunden. Das, was ihr seid, wohnt über dem Berg und treibt mit dem Wind.


aus: Khalil Gibran - Der Prophet

20100831

"Wer aber nur die Gegenwart hat, der hat nur den Augenblick, somit eigentlich nichts" - - diese Bemerkung Schnitzlers, die das Lebensproblem so vieler seiner Figuren bezeichnet, trifft auch auf den Leutnant Wilhelm Kasda zu, der dem Spiel von Augenblick und Zufall widerstandslos unterliegt und erst im Selbstmord seine Würde findet.

aus: Arthur Schnitzler - Gesammelte Erzählungen

20100715

Ich werde mir in aller Ruhe bewusst, was für ein schrecklich zivilisierter Mensch ich bin, wie ich Leute brauche, mit denen ich sprechen kann, wie ich von Unterhaltung, Büchern, Theater, Musik, Kaffeehäusern, Alkohol und so weiter abhängig bin. Es ist schrecklich, zivilisiert zu sein: wenn man ans Ende der Welt kommt, hat man nichts, was einem den Schrecken der Einsamkeit ertragen hilft. Zivilisiert sein heißt, komplizierte Bedürfnisse haben. Und ein ausgewachsener Mensch sollte nichts brauchen.

aus: Henry Miller - Wendekreis des Steinbocks

20100612

Früher hatte das ärmliche Leben zusammen mit seiner Mutter etwas Tröstliches gehabt. Wenn sie sich am Abend zusammenfanden und beim Licht der Petroleumlampe schweigend aßen, wohnte dieser Einfachheit und Zurückgezogenheit etwas inne, das wie ein heimliches Glück war.

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Jetzt würde man von seinem Leben sprechen können, von dem großen verwüstenden Schwung, der ihn vorangetragen hatte, von der flüchtigen, schöpferischen Poesie des Lebens blieb jetzt nichts mehr übrig als die nackte Wahrheit, das Gegenteil aller Poesie. Jetzt wußte er, welcher von all den Menschen, die er wie jedermann zu Beginn seines Lebens in sich getragen hatte, welches von diesen verschiedenartigen Wesen, die ihre Wurzeln miteinander vermischten, ohne sich selbst zu vermischen, er selber gewesen war: und diese Wahl, die im Menschen das Schicksal schafft, hatte er bewußt und beherzt getroffen. Darin lag sein ganzes Glück im Leben und im Tode. Er begriff jetzt, daß vor diesem Tod, den er stets mit dem panischen Schrecken eines Tieres betrachtet hatte, Furcht zu haben, bedeutete, Furcht vor dem Leben zu habe. Die Furcht zu sterben rechtfertigte das grenzenlose Festhalten an dem, was im Menschen lebendig ist. Und alle diejenigen, die nicht die entscheidenden Handlungen vollzogen hatten, um ihr Leben zu intensivieren, alle diejenigen, die die Ohnmacht fürchteten und zugleich priesen, hatten Angst vor dem Tod, weil er die endgültige Bestätigung eines Lebens bedeutete, das sie nicht mitgelebt hatten. Sie hatten nicht genug gelebt, da sie nie gelebt hatten, und der Tod war für sie gleichsam die Geste, die einen Reisenden, der vergebens versucht hat, seinen Durst zu stillen, für immer des Wassers beraubt. Für andere aber war er die schicksalhaft, dabei aber zärtliche Gebärde, die auslöscht und verneint und ebenso zur Dankbarkeit wie zur Auflehnung verführt.

aus: Albert Camus - Der glückliche Tod

20100609

Doch wer so wie wir einen Zielpunkt auf den Zentimeter bestimmten kann, ist einem automatisierten Leitsystem gefolgt, das keinerlei blinde Punkte mehr kennt und keine Irrfahrten. Es ist eine vollkommen andere Welterfahrung, in der das Unbestimmbare ebensowenig noch einen Ort hat wie das Unerreichbare - ein Knopfdruck genügt, und wir stehen per Satellitenhandy mit dem Rest der Welt auch in Verbindung. Was dabei verlorengeht, ist das Maß des unmittelbar Menschlichen - das wird nirgendwo einsichtiger als auf dieser Suche nach ihren alten Koordinaten.

Aus: Raoul Schrott - Die fünfte Welt

20100607

Zusammen rannten sie durch die Straßen und machten sich über alles lustig, auf die Art, wie sie das damals draufhatten und die später so viel trauriger wurde, vorsichtig und blaß. Aber damals tanzten sie durch die Straßen wie Kobolde, und ich stolperte hinterher, wie ich mein Leben lang hinter Leuten hergestolpert bin, die mich interessieren, denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und in der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen "Aaah!" Wie nannte man solche jungen Leute in Deutschland? Weil er so gern lernen wollte, so zu schreiben wie Carlo, stürzte sich Dean sofort auf ihn, mit einem großen und liebenden Herzen, wie nur ein Schwindler es haben kann.

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Der Bus kam in Hollywood an. In dem schmutziggrauen Dämmerlicht, einer Dämmerung wie in dem Film Sullivan´s Travels, wenn Joel McCrea und Veronica Lake sich in einem Diner begegnen, schlief sie auf meinem Schoß. Ich schaute gierig aus dem Fenster: stuckverzierte Häuser und Palmen und Drive-in-Restaurants, der reine Wahnsinn, dieses schäbige gelobte Land, das phantastische andere Ende Amerikas. An der Main Street stiegen wir aus, und es war hier nicht anders, als in Kansas City oder Chicago oder Boston auszusteigen - rote Backsteinmauern, Schmutz, vorbeischlendernde Gestalten, schnarrende Trolley-Busse im hoffnungslosen Dämmerlicht, der hurenhafte Geruch einer großen Stadt.

aus: Jack Kerouac - Unterwegs

20100529

Jetzt ist es Herbst, und ich bin das zweite Jahr in Paris. Ich wurde hierhergeschickt aus einem Grunde, den ich noch nicht klar erkannt habe.
Ich habe kein Geld, keine Zuflucht, keine Hoffnungen. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.

aus: Henry Miller - Wendekreis des Krebses

20100522

Das Unglück ist nur, daß der Mensch, wenigstens der Durchschnittsmensch, derjenige, den Sie im Sinn haben, wenn Sie von "unsereinem" reden, nur allzu leicht seinen Drang nach Wissen überwindet. Meiner Meinung nach gibt es ihn auch gar nicht. Es gibt einen Drang nach Verstehen, dazu aber bedarf es keines Wissens. Die Hypothese von Gott beispielsweise liefert die unvergleichliche Möglichkeit, absolut alles zu verstehen und dabei absolut nichts zu entdecken..."

aus: Arkadi und Boris Strugatzki - Picknick am Wegesrand

20100517

Wen wir uns als die alleinigen Erben des Weltalls fühlen, wenn "das Meer in unseren Adern fließt... und die Sterne unsere Schmuckstücke sind", wenn alle Dinge als unendlich und heilig wahrgenommen werden, welchen Beweggrund können wir da haben, der Begehrlichkeit oder der Selbstüberhebung nachzugeben, nach Macht zu streben oder der Sucht nach Vergnügungen zu erliegen?

aus: Aldous Huxley - Die Pforten der Wahrnehmung

20100511

Dagegen gefällt mir alles, was Du über Lawrence, Isolation usw. schriebst. Du bist also weiterhin an Deinem Buch über Lawrence! Eindruck machten auf mich diese Zeilen: „Der Mensch, der vom Leben berauscht ist, fällt kein Urteil, sucht nicht zu einer Schlußfolgerung zu gelangen, drängt nicht der Welt seine Botschaft auf. In der Kunst gab es immer diese beiden Extreme und wird es sie immer geben: jene Menschen, die das Leben ändern wollen, und jene, die es genießen, preisen oder einfach akzeptieren.“
(Anaïs Nin an Henry Miller)

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Vor allem bin ich traurig, weil es immer das gleiche ist. Auch Junes Gefühle. Ebenso hoffnungslos. Auch die Rebellion. Und das Verlangen, alledem davonzulaufen zu einer wirklichen, menschlichen Liebe.
(Anaïs Nin an Henry Miller)

(aus: Briefe der Leidenschaft)

20100428

Through the glory of life
I will scatter on the floor
Disappointed and sore
And in my thoughts I have bled
For the riddles I've been fed
Another lie moves over

Portishead - The Rip

20100424

Unüberwindliche Neigung zur Prostitution im Herzen des Menschen, der sein Abscheu vor der Einsamkeit entspringt. - Er will zwei sein. Der geniale Mensch will eins, also einsam sein.
Der Ruhm, das bedeutet, einer zu bleiben und sich dennoch auf eine besondere Weise zu prostituieren.
Und diesen Abscheu vor der Einsamkeit, dieses Bedürfnis, sein Ich im äußeren Fleisch zu vergessen, hat der Mensch mit dem edlen Namen des Bedürfnisses nach Liebe geschmückt.

aus: Charles Baudelaire - Mein entblößtes Herz, 36. Blatt
- Der Mensch trinkt das Licht mit der Atmosphäre. So hat das Volk recht, wenn es behauptet, die Nachtluft sei ungesund für die Arbeit.

aus: Charles Baudelaire - Raketen, 6. Blatt

20100418

"'Wir sind uns einmal im Leben so nahe gewesen, daß nichts unsere Freundschaft und Brüderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte ich dich: 'Willst du zu mir über den Steg?' - Aber da wolltest du nicht mehr; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reißende Ströme und was nur trennt und fremd macht, zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zueinander wollten, wir könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr - nur noch Schluchzen und Verwunderung.'"

aus: Irvin Yalom - Und Nietzsche weinte
Er reiste.
Er lernte die Schwermut der Schiffe kennen, das kalte Erwachen unter Zelten, die Betäubung von Landschaften und Ruinen, die Bitternis jäh zerrissener Zuneigungen.
Er kehrte wieder zurück.
Er ging unter Menschen, und er hatte noch andere Liebschaften. Aber die unaufhörliche Erinnerung an die erste machte sie ihm schal, und dann war auch die Heftigkeit der Sehnsucht, die eigentliche Erregung dahin. Auf gleiche Weise waren auch die ehrgeizigen Wünsche seines Geistes gering geworden.
Jahre gingen hin, und er ließ seinen Verstand in Müßiggang und sein Herz in Trägheit verharren.

aus: Gustave Flaubert - Die Erziehung des Herzens
In manchen Momenten hielt ich mich für unentbehrlich, in anderen für bloßes Beiwerk. Ich erlebte vertrauensvolle Augenblicke und traurige Stunden. Und es war notwendig, daß ich nicht wußte, was ich für Sie war, so wie es notwendig war, daß Sie nicht wußten, was Sie für mich waren. Der Zauber zwischen uns würde genauso lange andauern wie jene Unruhe in uns, die auf der Unkenntnis der Bilder fußte, die wir voneinander hatten.

aus: Marcelle Sauvageot - Fast ganz die Deine

20100411

Ich entdeckte, daß China und Spanien ein und dasselbe sind und nur aus Mangel an Bildung für zwei verschiedene Staaten gehalten werden. Ich rate jedem, auf ein Blatt Papier das Wort "Spanien" zu schreiben - Sie werden sehen, daß "China" dabei herauskommt. Äußerst betrübt bin ich über ein Ereignis, das morgen stattfinden soll. Morgen um sieben Uhr wird etwas Merkwürdiges geschehen - die Erde wird auf den Mond auflaufen. (...) Ich muß gestehen, als ich mir die außerordentliche Zartheit, ja Zerbrechlichkeit des Mondes vergegenwärtigte, fühlte ich mich aufs tiefste beunruhigt. Der Mond wird ja normalerweise in Hamburg hergestellt, und zwar sehr schlecht. (...) Und der Mond ist infolgedessen eine so zarte Kugel, daß Menschen auf ihm unmöglich leben können - er ist nur von Nasen bewohnt. Und eben aus diesem Grunde können wir unsere Nasen nicht sehen, denn sie befinden sich ja auf dem Mond.

aus: Nikolai Gogol - Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen

20100407

Wenn man Diehls Figuren in die Augen sieht, sprüht da immer ein Funken Wahnsinn, man traut ihnen stets beides zu: Scheitern und Überwindung. August Diehl sagt, darin spiegele sich die Sehnsucht, sich nie festzulegen und nie anzukommen.

aus: DIE ZEIT, Nr. 49, Artikel von Annabel Wahba
Liebe nennen wir das, was uns an bestimmte Wesen bindet, nur in bezug auf eine kollektive Sehweise, für die die Bücher und Märchen verantwortlich sind. Unter Liebe verstehe ich nur die Mischung von Verlangen, Zärtlichkeit und gegenseitigem Verstehen, die mich an ein bestimmtes Wesen bindet. Diese Zusammensetzung ist nicht bei jedem gleich. Ich habe nicht das Recht, alle diese Erfahrungen mit demselben Namen zu belegen ... Großmütig ist die Liebe nur, wenn sie sich zugleich vergänglich und einzigartig weiß.

aus: Albert Camus - Der Mythos des Sisyphos - Versuch über das Absurde
Man spricht da von den tristen Träumen
Und von den enttäuschten Lieben
Und von den Traurigkeiten, welche säumen
All die Jahre, die zerstieben

-

On y parle de tristesse
De rêves et d'amours déçus
Et du regret que vous laisse
Les années qui ne sont plus

Yves Montand - La Chanson des rues
Mit der Askese, die die Sinne tötet, sollte dieser Hedonismus ebensowenig gemeinsam haben wie mit der vulgären Zügellosigkeit, die sie stumpf macht. Aber er sollte die Menschen lehren, sich auf die Augenblicke eines Lebens zu konzentrieren, das selbst nur ein Augenblick ist.

aus: Oscar Wilde - Das Bildnis des Dorian Gray

20100403

Auch ist das vielleicht nicht eigentlich Liebe, wenn ich sage, daß Du mir das Liebste bist; Liebe ist, daß Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.

Franz Kafka

20100329

Darüber hinaus aber haben die Traurigen zwei Gründe für ihre Traurigkeit: sie leben in Unwissenheit, oder sie hoffen. Don Juan weiß, und er hofft nicht.

aus: Albert Camus - Der Mythos von Sisyphos - Versuch über das Absurde

20100324

Mit der Zeit lernst Du,
dass eine Hand halten nicht dasselbe ist
wie eine Seele fesseln
Und dass Liebe nicht Anlehnen bedeutet
und Begleitung nicht Sicherheit
Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind
und Geschenke keine Versprechen
Und Du beginnst,
Deine Niederlagen erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen
mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind
Und Du lernst,
all Deine Straßen auf dem Heute zu bauen,
weil das Morgen
ein zu unsicherer Boden ist
Mit der Zeit erkennst Du,
dass sogar Sonnenschein brennt,
wenn Du zuviel davon abbekommst
Also bestell Deinen Garten
und schmücke selbst
Dir die Seele mit Blumen,
statt darauf zu warten,
dass andere Dir Kränze flechten
Und bedenke,
dass Du wirklich standhalten kannst ...
und wirklich stark bist.
Und dass Du Deinen eigenen Wert hast.

Kelly Priest

20100323

Es interessiert mich nicht, womit du dein Geld verdienst. Ich will wissen, wonach du dich sehnst und ob du die Erfüllung deines Herzenswunsches zu träumen wagst. Es interessiert mich nicht, wie alt du bist. Ich will wissen, ob du es riskierst, dich zum Narren zu machen auf deiner Suche nach Liebe, nach deinem Traum, nach dem Abenteuer des Lebens.

Es interessiert mich nicht, welche Planeten ein Quadrat zu deinem Mond bilden. Ich will wissen, ob du deinem Leid auf dem Grund gegangen bist und ob dich die Ungerechtigkeiten des Lebens geöffnet haben oder ob du dich klein machst und verschließt, um dich vor neuen Verletzungen zu schützen. Ich will wissen, ob du Schmerz - meinen oder deinen eigenen - ertragen kannst, ohne ihn zu verstecken, zu bemänteln oder zu lindern.

Ich will wissen, ob du Freude - meine oder deine eigene - aushalten, dich hemmungslos dem Tanz hingeben und jede Faser deines Körpers von Ekstase erbeben lassen kannst, ohne an Vorsicht und Vernunft zu appellieren oder an die Begrenztheit des Menschseins zu denken.

Es interessiert mich nicht, ob du das, was du mir erzählst, wahr ist. Ich will wissen, ob du andere enttäuschen kannst, um dir selbst treu zu bleiben; ob du den Vorwurf des Verrats ertragen kannst, um deine eigene Seele nicht zu verraten; ob du treulos sein kannst, um vertrauenswürdig zu bleiben.

Ich will wissen, ob du die Schönheit des Alltäglichen erkennen kannst, selbst wenn sie nicht immer angenehm ist, und ob ihre Allgegenwärtigkeit die Quelle ist, aus der du die Kraft zum Leben schöpfst.

Ich will wissen, ob du mit Unzulänglichkeiten leben kannst - meiner oder deiner eigenen - und immer noch am Seeufer stehst und der silbernen Scheibe des Vollmondes ein uneingeschränktes "Ja!" zurufst.

Es interessiert mich nicht, wo du wohnst oder wie reich du bist. Ich will wissen, ob du nach einer kummervoll durchwachten Nacht zermürbt und müde bis auf die Knochen aufstehen kannst, um das Notwendige zu tun, damit deine Kinder versorgt sind.

Es interessiert mich nicht, wen du kennst oder wie du hierher gekommen bist. Ich will wissen, ob du inmitten des Feuers bei mir ausharren wirst, ohne zurückzuweichen. Es interessiert mich nicht, wo oder was oder mit wem du studiert hast. Ich will wissen, was dich von innen heraus trägt, wenn alles andere wegbricht.

Ich will wissen, ob du mit dir selbst allein sein kannst und ob du den, der dir in solch einsamen Momenten deines Lebens Gesellschaft leistet, wirklich magst.

aus: Oriah Mountain Dreamer - Die Einladung

20100318

Und bei Sonnenuntergang waren alle Träume weggefegt, und die Stadt war nackt.

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In den Häfen fielen zuweilen schmutzige Tage, Tage voller Asche und Kobalt, wie Jacken von Selbstmördern auf die Erde.

aus: Rafael Sánchez Ferlosio, Abenteuer und Wanderungen des Alfanhuí

20100316

In der Bibel lese ich einen merkwürdig ähnlichen Satz: "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme dabei Schaden an seiner Seele." (Matth. 16,26) Ach, was kümmern uns unsere Seelen! Die haben wir ja längst schon unterwegs irgendwo vergessen. Die Welt der Zukunft wird eine vollkommen bequeme und vollkommen wesenlose Welt sein. Glauben Sie nicht?

Aus: Michael Ende - Nachdenkenswerte Antworten

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Zu den vielen Begriffsverwirrungen unserer Zeit gehört die ständige Verwechslung von Indiskretion mit Aufrichtigkeit, von Vulgarität mit dem Elementaren, von Intensität mit Lautstärke.

Michael Ende

20100311

Der Traum bestand in nichts als einem, so schien es, nachtlangen, reglosen Bild, wo er, bei gleichbleibendem Dämmerlicht und lautloser Luft, sich ausgesetzt fand auf einen himmelhohen nackten Felsen, allein und für den Rest des Lebens. Und was geschah, war einzig, und das unaufhörlich, Herzschlag um Herzschlag, das Weltverlassensein, bei der Erstarrtheit des Planeten ein um so heißerer Fiebersturm, im Herzen selbst. Aber mit dem Erwachen, endlich, war es, als habe gerade solch nachtlanges Fiebern ihm die Verlorenheit ausgebrannt, zunächst jedenfalls.

aus: Peter Handke - Versuch über den geglückten Tag

20100310

Ich bin in den Wald gegangen, weil mir daran lag, mit Bedacht zu leben, es nur mit den Grundtatsachen des Daseins zu tun zu haben und zu sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, damit mir in der Stunde des Todes die Entdeckung erspart bleibt, nicht gelebt zu haben. Das Leben ist so kostbar; ich wollte es nicht mit etwas versäumen, das nicht leben heißt, auch gedachte ich nicht Entsagung zu üben, außer im Notfall. Ich wollte mit vollen Zügen leben, so herzhaft und grimmig entschlossen, dass alles, was nicht leben war, sich verkrümeln sollte...

aus: Henry David Thoreau - Walden
Wir schlafen zu dem ewigen Leierspiel der Zeiten, wir wachen, wenn überhaupt, beim Schweigen Gottes. Und dann, wenn wir an den festen Pfeilern der ungeborenen Zeiten wachen und die erregende Dunkelheit über die weiten Hügel der Zeit hereinbricht, dann wird es Zeit, die Dinge in Bewegung zu bringen, wie zum Beispiel unsere Vernunft und unseren Willen; dann wird es Zeit, uns davonzumachen, und zwar nach Hause.
Es gibt keine Ereignisse, nur Gedanken und das heftig klopfende Herz, das Herz, das so beschwerlich lernt, wo es lieben soll und wen. Der Rest ist nicht als Geschwätz und Geschichten für andere Zeiten.

aus: Annie Dillard - Holy the firm
Am Ende meiner
Reise ohne Ziel will ich fallen
in Ginsterblüten.

(Sora)
Sommergras
ist alles, was geblieben ist
vom Traum des Kriegers.

-

Die Welt im Schnee. Laß uns
die schönste Aussicht suchen gehen,
bis wir taumeln, fallen.

-

Das Jahr geht hin.
Noch immer trage ich
Strohhut und Strohsandalen.

(Matsuo Bashō)
Einen Wissenden darf ich mich nicht nennen. Ich war ein Suchender und bin es noch, aber ich suche nicht mehr auf den Sternen und in den Büchern, ich beginne die Lehren zu hören, die mein Blut in mir rauscht. Meine Geschichte ist nicht angenehm, sie ist nicht süß und harmonisch wie die erfundenen Geschichten, sie schmeckt nach Unsinn und Verwirrung, nach Wahnsinn und Traum wie das Leben aller Menschen, die sich nicht mehr belügen wollen.
Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann.

aus: Hermann Hesse - Demian
Alle aber ahnen, daß sich ihr Leben nicht in der Gegenwart, sondern in der Erinnerung und in der Vorstellung zuträgt, daß Liebe und Vergänglichkeit letztlich zwei Worte für dasselbe sind.

-

Ich dachte, daß immer irgend etwas nicht genug war, auch diesmal würde irgend etwas nicht genug sein, ich dachte an dich, an die Eisblumen, an den Rauchgeruch, ich dachte, auch wir sind nicht genug.

aus: Judith Hermann - Sommerhaus, später

20100309

Und während des ganzen Spätsommers und mitten im Herbst waren in tiefster Nacht auf der ganzen Uferstraße seltsame Straßenbahnen zu sehen, die ohne Reisende das Meer entlang schwankten. Die Bevölkerung hatte schließlich erfahren, welche Bewandtnis es damit hatte. Und Obwohl Patrouillen dem Zugang zur Felsenstraße untersagten, gelang es oft kleinen Gruppen, sich hinter die überhängenden Felsen zu schleichen und beim Vorbeifahren der Straßenbahn Blumen in die Anhängerwagen zu werfen. Dann hörte man die Fahrzeuge noch in die Nacht hinein holpern, beladen mit Blumen und Toten.

aus: Albert Camus - Die Pest
Ich will in deinem Herzen leben,
in deinem Schoß sterben,
in deinen Augen begraben werden.

aus: William Shakespeare – Viel Lärm um Nichts
Das Mädchen Einsamkeit

Du kamst mit mir herauf.
Ich öffnete dein Kleid.
Ich weiß nicht, wie du heißt.
Ich nenn dich "Einsamkeit".
Nun liegst du da und frierst.
Ich streichle deine Haut.
Du sagst kein Wort, du weinst.
Der Morgen graut.

Zum Dschungel wird der Traum um diese Zeit.
Im Zimmer wuchern Farnkraut und Liane.
Seltsame Tiere schreien nah und weit,
und aus den Uhren kriechen Leguane.

Wir liegen eingerollt
und schlafen endlich ein:
Zwei Tiere wärmen sich
und sind erst recht allein.
Die Lust ist schnell verglüht.
Du nahmst sie ohne Wort.
Nun bin ich aufgewacht,
und du bist fort.

Du gingst so stumm, wie du gekommen bist.
Der Regen schüttelt daußen die Platane.
Ich kann nur warten - gleich, wie spät es ist.
Und aus den Uhren kriechen Leguane.

Im allzu dünnen Kleid
suchst du, was es nicht gibt.
Doch meine Einsamkeit
hat deine fast geliebt.
Im Zigarettenrauch
ercheint mir dein Gesicht.
Hätt´st du das Wort gesagt -
du sprachst es nicht.

Am Fenster wächst ein anderer Dschungel dicht
aus weißem Farn - Eisblumenfiligrane.
Du kommst nicht wieder - und ich warte nicht.
Und aus den Uhren kriechen Leguane.

aus: Michael Ende - Trödelmarkt der Träume
Trödelmarkt der Träume

Ich war heut auf dem Trödelmarkt der Träume
am Rand der Welt, da gab es allerhand:
Gestohl'nes, Weggeworf'nes und Kaputtes,
Traumzeug aus zweiter und aus dritter Hand.
Fliegende Teppiche voll Mottenlöcher,
zerbeulte Heiligenscheine, Stern und Zopf,
Luftschlösser ohne Schlüssel, rostzerfressen,
und Puppen, einst geliebt, jetzt ohne Kopf...


Und unter all dem Plunder hab ich plötzlich
auch unsrer Liebe schönen Traum gesehn.
Sein Gold war blind, er war zerbrochen, aber
er war es doch - und war noch immer schön.
Ich hätte ihn dir gern zurückgegeben
und hab den bleichen Kerl danach gefragt.
Er hat mich zahnlos angegrinst, gehustet,
und einen unverschämten Preis gesagt.


Zwar war er's wert - trotzdem hab ich gehandelt.
Der andre schwieg, doch wurde er nicht weich.
So konnte ich den Traum nicht wieder kaufen.
Mir geht's nicht gut. Ich bin nicht mehr so reich.
Eins hätt' ich gern gewusst, als ich am Ende
mit leeren Händen abgezogen bin:
War er verschenkt - gestohlen - weggeworfen?

Mein Schönes, sag - wie kam der Traum dorthin?


aus: Michael Ende - Trödelmarkt der Träume