20121129

Manchmal möchte ich zu einer beschwerlichen, ernstzunehmenden Wanderung aufbrechen, ein wesentlicheres Leben führen, eine tiefe Erfahrung machen, mich bei Hitze und Kälte, Tag und Nacht im Freien aufhalten; mehr leben, mehr Luft verbrauchen, mich ermüden. Wir leben unser Leben nicht voll aus. Wir durchdringen nicht alle unsere Poren mit unserem Blut. Wir atmen nicht aus voller Brust. Wir leben nur einen Bruchteil unseres Lebens. Warum lassen wir die Flut nicht herein, öffnen die Schleusen und setzen all unsere Räder in Bewegung? Wer Ohren hat, der höre: Bediene dich deiner Sinne, um dich den sanften Einflüssen und den subtilen Eingebungen der Natur zu überlassen.

H. D. Thoreau

20121028

Sonett in Moll

Denk ich der Tage, die vergangen sind,
Und all des Lichtes, das tief in uns strahlte,
Da junge Liebe Wolken rosig malte
Und goldne Krone lieh dem Bettlerskind.

Denk ich der Städte, denk ich all der Straßen,
Die wir im Rausch durchflogen, Hand in Hand ...
Sie führten alle in das gleiche Land,
Das Land, zu dem wir längst den Weg vergaßen.

Nun stehn die Wächter wehrend vor den Toren
Und reißen uns die Krone aus dem Haar.
Grau ist die Wolke, die so rosig war.
Und all das Licht, das Licht in uns - verloren.

Im Traume nur siehst du es glühn und funkeln.
- Ich spür es wohl, wie unsre Tage dunkeln.


aus: M. Kaléko - Du sollst nicht wissen, dass ich einsam bin

Das Ende vom Lied

Ich säh dich gern noch einmal wie vor Jahren
Zum erstenmal. Jetzt kann ich es nicht mehr.
Ich säh dich gern noch einmal wie vorher,
Als wir uns herrlich fremd und sonst nichts waren.

Ich hört dich gern noch einmal wieder fragen,
Wie jung ich sei, was ich des Abends tu.
Und später dann im kaum gebornen Du
Mir jene tausend Worte Liebe sagen.

Ich würde mich so gerne wieder sehnen,
Dich lange ansehn stumm und so verliebt.
Und wieder weinen, wenn du mich betrübt,
Die viel zu oft geweinten dummen Tränen.

Das alles ist vorbei. Es ist zum Lachen!
Bist du ein andrer, oder liegts an mir?
Vielleicht kann keiner von uns zwein dafür.
Man glaubt oft nicht, was ein paar Jahre machen.

Ich möchte wieder deine Briefe lesen,
Die Worte, die man liebend nur versteht.
Jedoch mir scheint, heut ist es schon zu spät.
Wie unbarmherzig ist das Wort: gewesen!


aus: M. Kaléko: Ich und Du

20121026

Der Mann im Mond

Der Mann im Mond hängt bunte Träume,
Die seine Mondfrau spinnt aus Licht,
Allnächtlich in die Abendbäume,
Mit einem Lächeln im Gesicht.

Da gibt es gelbe, rote, grüne
Und Träume ganz in Himmelblau.
Mit Gold durchwirkte, zarte, kühne,
Für Bub und Mädel, Mann und Frau.

Auch Träume, die auf Reise führen
In Fernen, abenteuerlich.
- Da hängen sie an Silberschnüren!
Und einer davon ist für dich.


aus: M. Kaléko - Zur Heimat erkor ich mir die Liebe

20120428

Die Diagnose "Alzheimer" zu bekommen, ist, als würde man mit einem scharlachroten A gebrandmarkt werden. Genau das bin ich jetzt: jemand mit Demenz. Als genau das habe ich mich selbst eine Zeit lang definiert, und als genau das definieren andere mich noch immer. Aber ich bin nicht nur, was ich sage oder tue oder in Erinnerung behalte. Ich bin so viel mehr als das.
Ich bin eine Ehefrau, Mutter und Freundin und werdende Großmutter. Ich fühle und verstehe noch immer die Liebe und Freude in diesen Beziehungen, und ich bin sie wert. Ich nehme noch immer aktiv an der Gesellschaft teil. Mein Gehirn funktioniert nicht mehr gut, aber ich benutze meine Ohren, um uneingeschränkt zuzuhören, biete meine Schultern zum Ausweinen und benutze meine Arme, um andere mit Demenz zu umarmen. (...) Ich bin nicht jemand, der im Sterben liegt. Ich bin jemand, der mit Alzheimer lebt. Und das will ich tun, so gut es mir möglich ist.

aus: L. Genova - Mein Leben ohne Gestern