20130515

Doch als er den Hügel hinabstieg, überkam ihn eine Traurigkeit und er dachte in seinem Herzen:
Wie soll ich in Frieden gehen und ohne Trauer?
Nein, nicht ohne eine Wunde im Geist werde ich diese Stadt verlassen.
Lang waren die Tage des Schmerzes, die ich innerhalb dieser Mauern verbracht habe, und lang waren die Nächte der Einsamkeit. Und wer kann seinen Schmerz und seine Einsamkeit ohne Bedauern hinter sich lassen?
Zu viele Splitter des Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, und der Kinder meiner Sehnsucht sind es zu viele, die nackt durch diese Hügel laufen, und ich kann sie nicht zurücklassen, ohne die Last zu empfinden und den Schmerz.
Es ist kein Gewand, das ich heute ablege, sondern es ist eine Haut, die ich mir mit eigener Hand vom Leib reiße.
Und es ist auch kein Gedanke, den ich hinter mir lasse, sondern ein Herz so süß von Hunger und Durst.
Aber ich darf nicht länger verweilen.
Das Meer, das seinen Tribut fordert, ruft auch nach mir, und ich muss an Bord.
Denn bleiben, wenn auch die Stunden in der Nacht brennen, hieße erstarren und zu Kristall werden und in eine Gußform gefesselt zu sein.
Gerne würde ich mitnehmen alles, was hier ist. Aber wie sollte ich?
Eine Stimme kann die Zunge und die Lippen nicht mehr tragen, die ihr Flügel verliehen. Den Äther suchen muss sie allein.
Allein auch und ohne sein Nest soll der Adler fliegen zur Sonne.

aus: K. Gibran - Der Prophet