20100612

Früher hatte das ärmliche Leben zusammen mit seiner Mutter etwas Tröstliches gehabt. Wenn sie sich am Abend zusammenfanden und beim Licht der Petroleumlampe schweigend aßen, wohnte dieser Einfachheit und Zurückgezogenheit etwas inne, das wie ein heimliches Glück war.

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Jetzt würde man von seinem Leben sprechen können, von dem großen verwüstenden Schwung, der ihn vorangetragen hatte, von der flüchtigen, schöpferischen Poesie des Lebens blieb jetzt nichts mehr übrig als die nackte Wahrheit, das Gegenteil aller Poesie. Jetzt wußte er, welcher von all den Menschen, die er wie jedermann zu Beginn seines Lebens in sich getragen hatte, welches von diesen verschiedenartigen Wesen, die ihre Wurzeln miteinander vermischten, ohne sich selbst zu vermischen, er selber gewesen war: und diese Wahl, die im Menschen das Schicksal schafft, hatte er bewußt und beherzt getroffen. Darin lag sein ganzes Glück im Leben und im Tode. Er begriff jetzt, daß vor diesem Tod, den er stets mit dem panischen Schrecken eines Tieres betrachtet hatte, Furcht zu haben, bedeutete, Furcht vor dem Leben zu habe. Die Furcht zu sterben rechtfertigte das grenzenlose Festhalten an dem, was im Menschen lebendig ist. Und alle diejenigen, die nicht die entscheidenden Handlungen vollzogen hatten, um ihr Leben zu intensivieren, alle diejenigen, die die Ohnmacht fürchteten und zugleich priesen, hatten Angst vor dem Tod, weil er die endgültige Bestätigung eines Lebens bedeutete, das sie nicht mitgelebt hatten. Sie hatten nicht genug gelebt, da sie nie gelebt hatten, und der Tod war für sie gleichsam die Geste, die einen Reisenden, der vergebens versucht hat, seinen Durst zu stillen, für immer des Wassers beraubt. Für andere aber war er die schicksalhaft, dabei aber zärtliche Gebärde, die auslöscht und verneint und ebenso zur Dankbarkeit wie zur Auflehnung verführt.

aus: Albert Camus - Der glückliche Tod

20100609

Doch wer so wie wir einen Zielpunkt auf den Zentimeter bestimmten kann, ist einem automatisierten Leitsystem gefolgt, das keinerlei blinde Punkte mehr kennt und keine Irrfahrten. Es ist eine vollkommen andere Welterfahrung, in der das Unbestimmbare ebensowenig noch einen Ort hat wie das Unerreichbare - ein Knopfdruck genügt, und wir stehen per Satellitenhandy mit dem Rest der Welt auch in Verbindung. Was dabei verlorengeht, ist das Maß des unmittelbar Menschlichen - das wird nirgendwo einsichtiger als auf dieser Suche nach ihren alten Koordinaten.

Aus: Raoul Schrott - Die fünfte Welt

20100607

Zusammen rannten sie durch die Straßen und machten sich über alles lustig, auf die Art, wie sie das damals draufhatten und die später so viel trauriger wurde, vorsichtig und blaß. Aber damals tanzten sie durch die Straßen wie Kobolde, und ich stolperte hinterher, wie ich mein Leben lang hinter Leuten hergestolpert bin, die mich interessieren, denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und in der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen "Aaah!" Wie nannte man solche jungen Leute in Deutschland? Weil er so gern lernen wollte, so zu schreiben wie Carlo, stürzte sich Dean sofort auf ihn, mit einem großen und liebenden Herzen, wie nur ein Schwindler es haben kann.

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Der Bus kam in Hollywood an. In dem schmutziggrauen Dämmerlicht, einer Dämmerung wie in dem Film Sullivan´s Travels, wenn Joel McCrea und Veronica Lake sich in einem Diner begegnen, schlief sie auf meinem Schoß. Ich schaute gierig aus dem Fenster: stuckverzierte Häuser und Palmen und Drive-in-Restaurants, der reine Wahnsinn, dieses schäbige gelobte Land, das phantastische andere Ende Amerikas. An der Main Street stiegen wir aus, und es war hier nicht anders, als in Kansas City oder Chicago oder Boston auszusteigen - rote Backsteinmauern, Schmutz, vorbeischlendernde Gestalten, schnarrende Trolley-Busse im hoffnungslosen Dämmerlicht, der hurenhafte Geruch einer großen Stadt.

aus: Jack Kerouac - Unterwegs