20100612

Früher hatte das ärmliche Leben zusammen mit seiner Mutter etwas Tröstliches gehabt. Wenn sie sich am Abend zusammenfanden und beim Licht der Petroleumlampe schweigend aßen, wohnte dieser Einfachheit und Zurückgezogenheit etwas inne, das wie ein heimliches Glück war.

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Jetzt würde man von seinem Leben sprechen können, von dem großen verwüstenden Schwung, der ihn vorangetragen hatte, von der flüchtigen, schöpferischen Poesie des Lebens blieb jetzt nichts mehr übrig als die nackte Wahrheit, das Gegenteil aller Poesie. Jetzt wußte er, welcher von all den Menschen, die er wie jedermann zu Beginn seines Lebens in sich getragen hatte, welches von diesen verschiedenartigen Wesen, die ihre Wurzeln miteinander vermischten, ohne sich selbst zu vermischen, er selber gewesen war: und diese Wahl, die im Menschen das Schicksal schafft, hatte er bewußt und beherzt getroffen. Darin lag sein ganzes Glück im Leben und im Tode. Er begriff jetzt, daß vor diesem Tod, den er stets mit dem panischen Schrecken eines Tieres betrachtet hatte, Furcht zu haben, bedeutete, Furcht vor dem Leben zu habe. Die Furcht zu sterben rechtfertigte das grenzenlose Festhalten an dem, was im Menschen lebendig ist. Und alle diejenigen, die nicht die entscheidenden Handlungen vollzogen hatten, um ihr Leben zu intensivieren, alle diejenigen, die die Ohnmacht fürchteten und zugleich priesen, hatten Angst vor dem Tod, weil er die endgültige Bestätigung eines Lebens bedeutete, das sie nicht mitgelebt hatten. Sie hatten nicht genug gelebt, da sie nie gelebt hatten, und der Tod war für sie gleichsam die Geste, die einen Reisenden, der vergebens versucht hat, seinen Durst zu stillen, für immer des Wassers beraubt. Für andere aber war er die schicksalhaft, dabei aber zärtliche Gebärde, die auslöscht und verneint und ebenso zur Dankbarkeit wie zur Auflehnung verführt.

aus: Albert Camus - Der glückliche Tod