20100311

Der Traum bestand in nichts als einem, so schien es, nachtlangen, reglosen Bild, wo er, bei gleichbleibendem Dämmerlicht und lautloser Luft, sich ausgesetzt fand auf einen himmelhohen nackten Felsen, allein und für den Rest des Lebens. Und was geschah, war einzig, und das unaufhörlich, Herzschlag um Herzschlag, das Weltverlassensein, bei der Erstarrtheit des Planeten ein um so heißerer Fiebersturm, im Herzen selbst. Aber mit dem Erwachen, endlich, war es, als habe gerade solch nachtlanges Fiebern ihm die Verlorenheit ausgebrannt, zunächst jedenfalls.

aus: Peter Handke - Versuch über den geglückten Tag

20100310

Ich bin in den Wald gegangen, weil mir daran lag, mit Bedacht zu leben, es nur mit den Grundtatsachen des Daseins zu tun zu haben und zu sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, damit mir in der Stunde des Todes die Entdeckung erspart bleibt, nicht gelebt zu haben. Das Leben ist so kostbar; ich wollte es nicht mit etwas versäumen, das nicht leben heißt, auch gedachte ich nicht Entsagung zu üben, außer im Notfall. Ich wollte mit vollen Zügen leben, so herzhaft und grimmig entschlossen, dass alles, was nicht leben war, sich verkrümeln sollte...

aus: Henry David Thoreau - Walden
Wir schlafen zu dem ewigen Leierspiel der Zeiten, wir wachen, wenn überhaupt, beim Schweigen Gottes. Und dann, wenn wir an den festen Pfeilern der ungeborenen Zeiten wachen und die erregende Dunkelheit über die weiten Hügel der Zeit hereinbricht, dann wird es Zeit, die Dinge in Bewegung zu bringen, wie zum Beispiel unsere Vernunft und unseren Willen; dann wird es Zeit, uns davonzumachen, und zwar nach Hause.
Es gibt keine Ereignisse, nur Gedanken und das heftig klopfende Herz, das Herz, das so beschwerlich lernt, wo es lieben soll und wen. Der Rest ist nicht als Geschwätz und Geschichten für andere Zeiten.

aus: Annie Dillard - Holy the firm
Am Ende meiner
Reise ohne Ziel will ich fallen
in Ginsterblüten.

(Sora)
Sommergras
ist alles, was geblieben ist
vom Traum des Kriegers.

-

Die Welt im Schnee. Laß uns
die schönste Aussicht suchen gehen,
bis wir taumeln, fallen.

-

Das Jahr geht hin.
Noch immer trage ich
Strohhut und Strohsandalen.

(Matsuo Bashō)
Einen Wissenden darf ich mich nicht nennen. Ich war ein Suchender und bin es noch, aber ich suche nicht mehr auf den Sternen und in den Büchern, ich beginne die Lehren zu hören, die mein Blut in mir rauscht. Meine Geschichte ist nicht angenehm, sie ist nicht süß und harmonisch wie die erfundenen Geschichten, sie schmeckt nach Unsinn und Verwirrung, nach Wahnsinn und Traum wie das Leben aller Menschen, die sich nicht mehr belügen wollen.
Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann.

aus: Hermann Hesse - Demian
Alle aber ahnen, daß sich ihr Leben nicht in der Gegenwart, sondern in der Erinnerung und in der Vorstellung zuträgt, daß Liebe und Vergänglichkeit letztlich zwei Worte für dasselbe sind.

-

Ich dachte, daß immer irgend etwas nicht genug war, auch diesmal würde irgend etwas nicht genug sein, ich dachte an dich, an die Eisblumen, an den Rauchgeruch, ich dachte, auch wir sind nicht genug.

aus: Judith Hermann - Sommerhaus, später

20100309

Und während des ganzen Spätsommers und mitten im Herbst waren in tiefster Nacht auf der ganzen Uferstraße seltsame Straßenbahnen zu sehen, die ohne Reisende das Meer entlang schwankten. Die Bevölkerung hatte schließlich erfahren, welche Bewandtnis es damit hatte. Und Obwohl Patrouillen dem Zugang zur Felsenstraße untersagten, gelang es oft kleinen Gruppen, sich hinter die überhängenden Felsen zu schleichen und beim Vorbeifahren der Straßenbahn Blumen in die Anhängerwagen zu werfen. Dann hörte man die Fahrzeuge noch in die Nacht hinein holpern, beladen mit Blumen und Toten.

aus: Albert Camus - Die Pest
Ich will in deinem Herzen leben,
in deinem Schoß sterben,
in deinen Augen begraben werden.

aus: William Shakespeare – Viel Lärm um Nichts
Das Mädchen Einsamkeit

Du kamst mit mir herauf.
Ich öffnete dein Kleid.
Ich weiß nicht, wie du heißt.
Ich nenn dich "Einsamkeit".
Nun liegst du da und frierst.
Ich streichle deine Haut.
Du sagst kein Wort, du weinst.
Der Morgen graut.

Zum Dschungel wird der Traum um diese Zeit.
Im Zimmer wuchern Farnkraut und Liane.
Seltsame Tiere schreien nah und weit,
und aus den Uhren kriechen Leguane.

Wir liegen eingerollt
und schlafen endlich ein:
Zwei Tiere wärmen sich
und sind erst recht allein.
Die Lust ist schnell verglüht.
Du nahmst sie ohne Wort.
Nun bin ich aufgewacht,
und du bist fort.

Du gingst so stumm, wie du gekommen bist.
Der Regen schüttelt daußen die Platane.
Ich kann nur warten - gleich, wie spät es ist.
Und aus den Uhren kriechen Leguane.

Im allzu dünnen Kleid
suchst du, was es nicht gibt.
Doch meine Einsamkeit
hat deine fast geliebt.
Im Zigarettenrauch
ercheint mir dein Gesicht.
Hätt´st du das Wort gesagt -
du sprachst es nicht.

Am Fenster wächst ein anderer Dschungel dicht
aus weißem Farn - Eisblumenfiligrane.
Du kommst nicht wieder - und ich warte nicht.
Und aus den Uhren kriechen Leguane.

aus: Michael Ende - Trödelmarkt der Träume
Trödelmarkt der Träume

Ich war heut auf dem Trödelmarkt der Träume
am Rand der Welt, da gab es allerhand:
Gestohl'nes, Weggeworf'nes und Kaputtes,
Traumzeug aus zweiter und aus dritter Hand.
Fliegende Teppiche voll Mottenlöcher,
zerbeulte Heiligenscheine, Stern und Zopf,
Luftschlösser ohne Schlüssel, rostzerfressen,
und Puppen, einst geliebt, jetzt ohne Kopf...


Und unter all dem Plunder hab ich plötzlich
auch unsrer Liebe schönen Traum gesehn.
Sein Gold war blind, er war zerbrochen, aber
er war es doch - und war noch immer schön.
Ich hätte ihn dir gern zurückgegeben
und hab den bleichen Kerl danach gefragt.
Er hat mich zahnlos angegrinst, gehustet,
und einen unverschämten Preis gesagt.


Zwar war er's wert - trotzdem hab ich gehandelt.
Der andre schwieg, doch wurde er nicht weich.
So konnte ich den Traum nicht wieder kaufen.
Mir geht's nicht gut. Ich bin nicht mehr so reich.
Eins hätt' ich gern gewusst, als ich am Ende
mit leeren Händen abgezogen bin:
War er verschenkt - gestohlen - weggeworfen?

Mein Schönes, sag - wie kam der Traum dorthin?


aus: Michael Ende - Trödelmarkt der Träume