20110911

Ich versuchte mir die Unterschiede einmal anders auszudrücken; man muß doch schließlich nicht immer sagen: leben heißt denken und eine Einheit herstellen; man kann doch auch einmal sagen: leben heißt eitern können, denn Totes eitert nicht mhr. Und unsere Art zu denken ist doch schließlich nur eine, die häufigste Ablaufsform des psychischen Prozesses; es gibt andere, genau so gesetzmäßige und regelmäßige Abläufe, von denen sich garnichts anderes sagen läßt, als daß sie anders und vielleicht glücklicher sind als die unsern, z.B. bei der Gehirnerweichung. Und wie ich das so dachte, fiel mit einem Mal meine ganze Qual nach Wahrheit in mir nieder wie eine erloschene und zerbrochene Fackel und ich sah das Leben mit eine Mal so ungeheuer einfach und rauscherregend vor mir liegen: wie eine Dämmerung und einen Geruch aus Blumen und als den kurzen Halbschlaf zwischen den beiden lagen Schläfen: - Ich saß auf einer Bank am Meer und das Wasser war grau. Dann aber lag wie ein großer Schwan plötzlich etwas weiches Licht auf den Wellen, und vielleicht durch diesen Eindruck vollzog sich etwas oben im Zentral-Nervensystem; eine Molekularverschiebung, eine Strukturverbiegung, irgendetwas ganz flüchtiges trat ein: Das Gefühl einer plötzlichen, ruckartigen, hochschnellenden Liebe zum Leben, als ob ich auf dem Schafott begnadigt worden wäre. Aber es war etwas sehr Flüchtiges, das keinen Bestand hatte.

aus: G. Benn - Unter der Großhirnrinde